Machiavelli und die Diktatur
von Carlos Wefers VerásteguiEx: http://www.blauenarzisse.de
Nach gut fünfhundert Jahren ist Machiavelli noch immer einer der einflussreichsten politischen Denker. Der Begriff „Staat“ ist von ihm geprägt worden.
Die Politik– und Sozialwissenschaften in ihrer heutigen Form wären undenkbar ohne ihn. In seiner Tradition stehen die berühmten Klassiker der politischen Soziologie Gaetano Mosca, Vilfredo Pareto und Robert Michels. Wenig bekannt ist, dass Machiavelli ein unübertroffener Theoretiker der Diktatur ist. Diese hat er, mittels einer geschickt getarnten Bezugnahme auf Oktavian-Kaiser Augustus in ihren wesentlichen Funktionen dargestellt.
Das Unzeitgemäße ist das Falsche
Bei der Offensichtlichkeit, mit der Machiavelli über die Diktatur abhandelt, ist es erstaunlich, wie selten dieser Kernaspekt seiner Lehre bemerkt wurde: Il principe als Gegenstand einer eigenen Untersuchung nimmt eindeutig Bezug auf den Prinzeps schlechthin: Oktavian-Kaiser Augustus. Im „Fürsten“ spricht Machiavelli kein einziges Mal über ihn. Das ist auffällig. Oktavian besitzt nämlich sämtliche Eigenschaften, die ihn eigentlich als „Fürsten“ im Sinne Machiavellis qualifizieren. Auch hat er Erfolg gehabt. Und das ist das einzig Ausschlaggebende für Machiavelli, dass der Fürst auch Erfolg hat. Und von allen Fürsten, die es jemals gegeben hat, ist Oktavian der einzige, der den vollkommensten, nämlich weltgeschichtlichen Erfolg erzielt hat: durch die Beständigkeit und Größe, die räumliche Ausdehnung sowie die überragende politische Qualität seiner Schöpfung.
Zu seiner Zeit war Machiavelli gezwungen, wenigstens zum Schein, von Oktavian abzusehen. Schließlich galt Oktavian als Stifter des von Karl dem Großen erneuerten römischen Imperiums. Das universelle Kaiserreich jedoch hatte das Mittelalter nicht überlebt. Das war Machiavelli, der am Anfang der „neuen Zeit“ stand, noch frisch in Erinnerung. Die wirtschaftliche und kulturelle Blüte Italiens hingegen hatte die moderne Staatlichkeit hervorgebracht. Kaiser Augustus da ins Spiel zu bringen, musste Machiavelli unpassend erscheinen. Hatten sich doch mit ihm die deutschen Könige identifiziert. Und deren Kaisertum, für das Augustus sogar seinen Namen (Caesar) hergab, repräsentierte für Machiavelli eine überlebte, fehlgeschlagene und somit falsche Organisationsform.
Geschichte ist ein Kontinuum aufeinanderfolgender Zyklen
Als guter Kenner der römischen Geschichte hatte diese natürlich Vorbildcharakter für Machiavelli. Seinerseits ging er von einer geschichtlichen, politischen und sozialen Zyklenlehre aus: Die Geschichte ist ein eigener Wirklichkeitsbereich menschlicher Ursachen, zusammengesetzt aus nachvollziehbaren sowie empirisch nachweisbaren Motiven. Geschichte ist daher grundsätzlich „vernünftig“.
Nach Machiavelli besitzen die Menschen zudem immer die gleiche Ausstattung der Psyche und des Charakters. Auch die Beweggründe und Ziele ändern sich nie wirklich in der Geschichte. Daher gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen den Epochen. Geschichte ist für Machiavelli ein echtes Kontinuum. Der rein empirische Charakter dieses ungeschiedenen Geschichtsverlaufs macht es Machiavelli daher möglich, Geschichte naturgesetzlich aufzufassen und somit als ewig wiederkehrenden Zyklus zu begreifen. Aus jeder Vergangenheit können daher Lehren für die Gegenwart, aus der ganzen Geschichte Anleitungen fürs richtige Handeln gezogen werden.
Machiavellis Helden tragen Züge Oktavians
Machiavelli war es unmöglich, sich damit zu begnügen, seinem von ihm konstruierten Idealtypus des „Fürsten“ dem so hervorragenden Oktavian, sozusagen als Schablone, einfach unterzulegen. Es ging ihm um weit mehr. Er wollte Oktavians Vorgehen in den bemerkenswertesten politischen Unternehmungen seiner Zeit wiederfinden. Vom schlauen Oktavian, der den Bürgerkrieg beendete, eine zentrale Verwaltung schuf, die Verfassung reformierte, das Römertum erneuerte, das Reich auf eine eigene, ihm angemessene Grundlage stellte, von diesem Übermenschen Oktavian und seiner „Tugend“ (virtù) finden sich daher unverkennbare Züge in Machiavellis Darstellung zweier so unterschiedlicher Gestalten wie dem spanischen König Ferdinand von Aragón und dem Papstsohn Cesare Borgia.
Die liberale Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts sah in Oktavian immer nur den „Feind der Freiheit“: Er ließ die Republik nur der Form nach, als bloße Fassade, bestehen. Er errichtete ein autokratisches System, und die ihm dabei zukommende prokonsularische Amtsgewalt sei zu dem noch eine „Sünde wider dem Geist der römischen Verfassung“ gewesen. Diese Auffassung hat noch Einfluss auf Ronald Symes „Römische Revolution“ gehabt. Symes Darstellung steht aber bereits unter dem Einfluss machiavellistischer Soziologie („sozialen Zyklentheorie“). Die Parallelen zum Aufstieg des „Faschismus“, damals von Syme bewusst gezogen, halfen aber, den richtenden Maßstab der damals üblichen liberalen Historiographie zu überwinden. Diese gibt es aber so weiterhin noch heute. Sie kommt notgedrungen zu so lustigen Schnitzern wie dem, Oktavian tatsächlich, mittels der Blume, „Cäsarismus“ vorzuwerfen.
In Machiavellis Sprachgebrauch war Oktavian aber ein „Fürst“, sein System eine mit der „Republik“ nicht zu vereinbarende Monarchie. In unsere heutige Sprache übersetzt heißt das: Faktisch war Oktavian ein Diktator, mehr noch als es sein Großonkel, der amtsmäßige Diktator Julius Cäsar es jemals gewesen war.
Wenn die Rechtlichkeit sich in Luft auflöst …
In Zeiten der Umwälzung von „Fürsten“ und „Monarchien“ zu reden, ist ein Anachronismus. Machiavelli hätte sich dessen nie zu schulden kommen lassen. Wenn er nun doch von ihnen redete, so meinte er etwas ganz anderes damit. Machiavellis „Fürst“ ist genauso wenig ein Repräsentant der alten Ordnung, wie es der Prinzeps bei den Römern gewesen war. Der Ausnahmezustand, nicht die Tradition oder die „Verfassung“, ist der Grund ihrer Bevollmächtigung.
Sämtliche Rechtstitel, die der „Fürst“ in dieser Situation zu seiner Behauptung nötig hat, muss er sich erst zulegen, opportunistisch aneignen, oder zu seinen Gunsten auslegen. Alles, was Recht, rechtlich, rechtmäßig sein könnte, wird für seine Berufung geltend gemacht. Da es keine „Legitimität“, keinen politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Zustand mehr gibt, auf den sie sich beziehen könnten, sind die Kategorien des Rechts nur noch rein formal und damit inhaltslos geworden.
… dient alles dem politischen Kampf
Bar jedes existenziellen Geltungsgrundes sind sie von nun ab dazu gebräuchlich, als Waffe im politischen Kampf eingesetzt zu werden. Die Verfassung ist faktisch längst außer Kraft, es herrscht Ausnahmezustand. Der politische, rechtliche und gesellschaftliche Zustand im Gemeinwesen muss erst mit dem Gemeinwesen wiederhergestellt werden. Das Volk befindet sich im Bürgerkrieg, ist entzweit, zerstoben oder anderweitig von Vernichtung bedroht. Es ist daher keine verfassungsrechtliche, keine Frage des „Rechtsstaats“, die sich in einer solchen Situation auftut. Es ist eine Frage der faktischen Macht sowie der existenziellen Berechtigung. Und auf die gibt nur die Diktatur die passende Antwort.
Beten ist, wie Machiavelli am Negativbeispiel Savonarolas darstellt, keine Option. Wenn nichts mehr hilft und sich Treue, Glaube, Eintracht, Gottesfurcht und Vaterlandsliebe längst in Luft aufgelöst haben, und die Bürger sich allerlei Vergewaltigungen oder der Anarchie ausgesetzt sehen, dann ist die Zeit für die Diktatur gekommen. Die Zeit, d.h. die Menschen sind reif für den Diktator. Das sagt Machiavelli ausdrücklich, übrigens mit einem interessanten Hinweis auf Moses und die „Ägyptische Gefangenschaft“. Erst wenn die Völker ganz unten sind, sind sie auch in der Lage, das, was not tut, die Diktatur nämlich, anzuerkennen.
Gesunder Menschenverstand und „Natur der Sache“ beschränken die Diktatur
Die populäre deutsche Formel „Der Zweck heiligt die Mittel“ bringt den Kern von Machiavellis Lehre nicht auf den Punkt. Die Mittel bleiben ruchlos, „unheilig“, und, für sich gewertet, unverzeihlich. Auch wenn das edelste aller Ziele durch sie erreicht würde. Machiavellis Wahrheit näher kommt die Formel, die der spanische katholische Jurist Nicolás Rodríguez Aniceto geprägt hat: „Gerecht – im Sinne von gerechtfertigt– ist für ihn nur, was auch zu dem beabsichtigten Zweck führt.“ Derselbe Autor spricht auch klar an, dass mit der „Staatsräson“ und dem „Ausnahmezustand“ dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet sind.
Dass die „Staatsräson“ willkürlich gehandhabt, der Ausnahmezustand ungerechtfertigter Weise geltend gemacht werden kann, oder als Vorwand dazu dienen kann, eine Tyrannei zu errichten, der nur daran liegt, sich selbst zu verewigen, war Machiavelli von Anfang an bewusst. Sein Hinweis auf den vernünftigen Gebrauch der „Grausamkeit“ setzt der Diktatur Schranken. Nicht um Willkür und rohe Gewalt, sondern um kalte Berechnung und Mäßigung muss es dem Fürsten gehen. Bei allem Negativen, was Machiavelli allgemein über die Menschen zu berichten weiß, setzt er doch letzen Endes auf eine genauso seltene wie menschliche, ja, sogar übermenschliche Tugend: den gesunden Menschenverstand.